Heute morgen wurde ich durch einen Tweet des Fotografen Axel Lauer auf eine Aktion eines Sportvereins in Ebstorf, einer Gemeinde in Niedersachen, aufmerksam. Er präsentierte einen Screenshot eines Facebook-Posts von Heiko Senking, dem Vorsitzenden des örtlichen Sportvereins. Darin legt Senking dar, dass und warum er AfD-Wahlplakate vor der Geschäftsstelle des Vereins abgenommen hat. Sowohl auf Twitter als auch auf Facebook entbrannte darüber eine Debatte um die Richtigkeit des Handelns. Der Fotograf hatte ihm zu der Aktion gratuliert, viele andere stimmten darin ein, während wieder andere es heftig kritisierten und den Untergang der Demokratie vorhersagten.
Als Politikwissenschaftlerin kann ich bei solchen Diskussionen, gerade im Vorfeld der Bundestagswahl, nicht ruhig bleiben. Also schreibe ich heute mal jenseits buchiger Themen über Politik.
Was Heiko Senking hier getan hat, kann im weitesten Sinne als Ziviler Ungehorsam verstanden werden. Er hat etwas Rechtswidriges begangen, um seine politische Meinung auszudrücken. Das Besondere in diesem Fall ist, dass er offensichtlich politischen Sachverstand besitzt und sein Handeln selbst zur Anzeige gebracht hat. Er war sich also bewusst, dass er eine illegale Handlung begeht, hielt sie aber dennoch für legitim und zog sie deswegen durch.
Was ist: Ziviler Ungehorsam?
Legalität und Legitimität sind zwei verschiedene Begriffe. Die Legalität bezieht sich ausschließlich auf den Gesetzestext. Rechtlich betrachtet ist es in Deutschland nicht erlaubt, willkürlich Wahlplakate abzuhängen. Legitimität hingegen bezieht sich auf die wahrgenommene, moralische Richtigkeit eines Handelns und ist viel schwerer zu definieren, da sie von der öffentlichen Meinung abhängt und je nach Person, die sich darüber äußert, anders beurteilt wird. Kein AfD-Anhänger wird die Aktion als legitim bezeichnen, während in den Sozialen Netzwerken viele ihre Unterstützung für das Abhängen ausdrücken.
Ziviler Ungehorsam – ohne, dass ich jetzt zu tief in wissenschaftliche Erklärungen abdriften möchte – findet auf der Grenze zwischen Legalität und Legitimität statt. Es handelt sich dabei immer um Widerstandshandlungen, die gegen geltende Gesetze stattfinden, aber von den agierenden Personen – und, so hofft man zumindest, der Bevölkerung – als legitim, weil moralisch notwendig wahrgenommen werden. Ziviler Ungehorsam ist in meinen Augen ein Anker und Grundpfeiler jeglicher funktionierender, liberaler Demokratie – tatsächlich kann er auch nur in einem Rechtsstaat stattfinden, wenn man der Argumentation von Jürgen Habermas folgt [1]. Es handelt sich dabei nämlich nicht um schlichten Widerstand gegen ein Unrechtsregime, sondern um einen politischen Akt, der sich an die Öffentlichkeit richtet und gleichzeitig deutlich macht, dass die legalen Grundlagen der Demokratie generell akzeptiert werden. Im Regelfall strebt Ziviler Ungehorsam eine konkrete Gesetzesänderung an, doch das ist für den vorliegenden Fall nicht relevant.
Auch der große Gerechtigkeits-Theoretiker John Rawls räumt dem Zivilen Ungehorsam einen Platz in seiner Diskussion ein [2]: Der Zivile Ungehorsam ist ein Appell an die Öffentlichkeit, dessen Aufrichtigkeit der Ungehorsame dadurch beweist, dass er sich freiwillig den existierenden Gesetzen unterwirft. Er erkennt die rechtsstaatliche Ordnung an und lässt sich im Zweifelsfall sogar verhaften.
Welche Bedeutung hat dieser konkrete Fall?
Heiko Senking hat sich öffentlichkeitswirksam inszeniert, um auf ein von ihm empfundenes, politisches Unrecht hinzuweisen: Dass die AfD für den Bundestag kandidiert und vor der Geschäftsstelle Werbung macht, also bei einem Sportverein, der sich gerade für Inklusion einsetzt, konnte er nicht ertragen. Durch sein Handeln richtet er sich mit einer politischen Botschaft an die Öffentlichkeit und sagt: Wählt diese Partei nicht, wenn ihr für dieselben Werte steht wie ich. Ich bin bereit, rechtliche Konsequenzen zu erleiden, wenn ich dafür nur verhindern kann, dass diese Partei Zulauf erhält.
Einige Kommentatoren, die seine Aktion kritisierten, sprachen an, dass es in Deutschland ein Recht auf freie Meinungsäußerung gibt und dass Senking dieses mit seiner Aktion untergräbt. Das ist falsch. Der Staat hat über das Recht zu wachen, er darf niemanden für Äußerungen verfolgen (abgesehen von bestimmten verfassungswidrigen Akten) – aber jeder Bürger hat das Recht, die Meinung eines anderen nicht hören zu wollen und die Äußerung zu unterbinden. Freie Meinungsäußerung ist ein Recht des Bürgers gegenüber dem Staat, nicht ein Recht untereinander. Das wird gerne verwechselt. Bürger können sich untereinander nicht zensieren, sogar große Unternehmen können keine echte Zensur durchführen, das kann in dem Sinne nur der Staat – und ihm ist es verboten. Darum geht es bei diesem Grundrecht.
Andere äußerten, dass sie sich enttäuscht vom Staat zeigen würden, wenn dieser tatsächlich rechtliche Schritte gegen Senking einleitet. Auch hier sage ich: Falsch. In diesem Fall wird der Staat gezwungen sein, rechtliche Schritte gegen Senking zu unternehmen, um das Wahlkampfrecht zu schützen. Der Staat ist Hüter der Gesetze. Solange ein Gesetz gilt, muss der Staat es schützen. Der Rechtsstaat muss unpolitisch sein, solange seine Verfassung nicht bedroht wird. Als neutraler Gesetzeshüter muss er einen Mann, der AfD-Plakate abhängt, ebenso bestrafen wie eine Frau, die CDU/SPD-Plakate* abhängen würde. Der Tatbestand ist derselbe, selbst wenn die Legitimität der einen Handlung von der Bevölkerung anders wahrgenommen wird als die andere.
Wieder andere zeigten sich besorgt, dass es mit der Demokratie zu Ende gehen würde, wenn jetzt alle anfangen würden, Wahlplakate von unliebsamen Parteien abzuhängen. Das lässt mich nur den Kopf schütteln. Solange solche Aktionen in der Art geschehen wie es Senking getan hat, sehe ich keine Probleme. Natürlich sollten nun nicht Banden losziehen und in Nacht-und-Nebel-Aktionen diverse Plakate abreißen, das wäre einfach nur illegal und illegitim. Stattdessen sollten wir Senkings Aktion als das betrachten, was sie war: eine zutiefst politische Handlung, die ein öffentliches Interesse an Politik zeigt, welches wir in der heutigen Zeit wahrlich brauchen. Einmischung, Partizipation, lautstarke Meinungsbekundung – bitte mehr davon! Er steht zu einer Straftat, er versteckt sich nicht, denn die politische Botschaft ist ihm wichtiger.
Meine persönliche Meinung
Wir leben in Deutschland in einer wehrhaften Demokratie, d.h. das Grundrecht der freien Meinungsäußerung geht nur soweit, wie durch die öffentliche Meinungsäußerung unsere Verfassung nicht angegriffen wird. Das ist eine der wichtigsten Lehren, die wir aus der NS-Zeit gezogen haben: Toleranz gegenüber der Intoleranz ist bloßes Wegschauen und keine Toleranz mehr. Parteien wie die AfD bewegen sich entlang der Grenze, sie sind klug genug, Verfassungsverstöße zu vermeiden. Der Staat kann hier nicht eingreifen, es ist auch im Sinne aller Bürger, dass er nicht eingreift. Ich möchte in keiner Demokratie leben, deren Exekutive politisch unliebsame Meinungen unterdrückt – das wäre nämlich keine Demokratie mehr.
Doch wir als Bürger, als politische Menschen mit einer Meinung, wir können weitergehen als der Staat. Die politische Diskussion lebt davon, dass man sich mit allen Mitteln gegen die politische Meinung der Opposition wehrt. In den besten Zeiten erfolgt das im Rahmen der Gesetze und im Rahmen von Anstand und Moral. Doch in Zeiten, wo wir das Gefühl haben, dass Parteien mit gefährlichen Botschaften an Zulauf gewinnen, sind in meiner ganz persönlichen Ansicht auch illegale Aktionen wie diese legitim. Auf friedfertige, öffentlichkeitswirksame und am Ende immer noch dem Rechtsstaat unterworfene Weise zeigt Heiko Senking: Ihr seid hier nicht willkommen. Auch ganz persönlich heiße ich daher diese Aktion gut.
Zum Schluss bleibt mir nur zu sagen: Geht wählen. Egal, ob ihr Volksparteien wie SPD und CDU, oder Milieu-Parteien wie Grüne, Linke, FDP oder Piraten wählt. Geht wählen und zeigt Flagge gegen jene Parteien, die die Grundwerte unserer liberalen Gesellschaft auf lange Sicht untergraben wollen.
[1] HABERMAS, JÜRGEN (1983): Ziviler Ungehorsam. Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Glotz, Peter (Hg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Erstausg., [1. Aufl.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 39.
[2] RAWLS, JOHN; Vetter, Hermann (1990): Eine Theorie der Gerechtigkeit. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 403ff.
* In einer ursprünglichen Version stand dort nur CDU. Nach Hinweis habe ich die SPD hinzugefügt, um deutlich zu machen, dass ich auf den Unterschied zwischen etablierten und nicht-etablierten Parteien hinaus will, und nicht links-orientierte Parteien anders behandeln möchte.
„Toleranz gegenüber der Intoleranz ist bloßes Wegschauen und keine Toleranz mehr.“
Danke für diesen Satz.
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Sehr guter und wichtiger Beitrag. Darf ich das teilen?
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Selbstverständlich. Ich freue mich, dass du ihn gut genug zum Teilen findest!
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Wir haben bereits per Briefwahl abgestimmt. Grundsätzliches ändert sich nicht mehr in den letzten Tagen vor eine Wahl. Unsere Zweitstimme hat das Bündnis Grundeinkommen bekommen.
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Vielen Dank für diesen tollen & auch wichtigen Beitrag! Sehr klar & sachlich geschrieben. Ich wünschte, es würde mehr Menschen geben, die , bevor sie Wutbeiträge schreiben, erstmal ihren Kopf einschalten würden und dann auch beide Seiten der Münze betrachten.
Ich persönlich finde die Tat des Mannes gut. Gerade weil er weiß, dass er es nicht hätte tun dürfen und sich selbst anzeigt. Ihm ist sein eigenes Wohl in dieser Hinsicht weniger wichtig, als das Gesamtwohl von anderen.
„Freie Meinungsäußerung ist ein Recht des Bürgers gegenüber dem Staat, nicht ein Recht untereinander.“ / „Toleranz gegenüber der Intoleranz ist bloßes Wegschauen und keine Toleranz mehr.“ —> Danke für diese zwei wichtigen Sätze!
Liebe Grüße,
Pia!
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Ein sehr guter Beitrag, der – über die eigentliche Aktion hinaus – hoffentlich viele zum Nachdenken über diese Gruppierung und ihre Vorstellung von unserem Land anregen wird. Weiter so!
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Vielen Dank für diesen fundierten und durchdachten Beitrag. Der Vorsitzende, der das Plakat abgehängt hat, hat sich selbst angezeigt. Das zeigt, dass er durchaus weiß, mit der Wahrung seiner Moral gegen staatliche Regeln verstoßen zu haben. Diese staatlichen Regeln sollen schützen, aber auch ich finde es teilweise nur schwer zu ertragen, was AfD und Co so aufhängen. Ich frage mich, warum im Wahlkampf die Linie zur öffentlichen Diskriminierung übertreten werden darf.
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